Es gibt Tage, an denen das Leben plötzlich den Aggregatzustand wechselt. Es bleibt das gleiche Element – dieselbe Substanz, dieselbe Biografie – und doch fließt, dampft oder erstarrt es in neuer Form. Heute ist so ein Tag.
Ich bin obdachlos.
Was auf dem Papier nach Scheitern klingt, fühlt sich seltsam aufrecht an. Nicht als Trotz, sondern als leise Rückeroberung eines Raumes, der kein Grundbuch kennt: der Raum der inneren Autonomie. Der Entschluss, sich dem Diktat des „So lebt man eben“ zu entziehen, ohne dabei laut zu werden.
Paul – mein Van – steht schweigend auf grauem Pflaster, ein weißer Quader mit Geschichten im Bauch. Noch riecht er nach Isoliermaterial, nach feuchtem Holz und neuen Anfängen. Die Ordnung ist provisorisch. Die Kisten erzählen weniger von Chaos als von Übergang. Und das, was in der Wohnung zuletzt dumpf nach Verfall roch, duftet hier wie ein Versprechen: Du kannst neu anfangen, ohne alles neu zu kaufen.
Es ist eine stille Revolution.
Keine Flucht. Keine Pose. Kein Instagram-Moment mit Latte Macchiato am Fjord. Sondern die ernsthafte, vielleicht sogar altmodische Frage: Wie wenig brauche ich, um bei mir selbst zu sein?
Ich bin in einem Raum, der rollt. In einem Zuhause, das nicht stehen bleibt, sondern mit mir mitdenkt, mitlebt, mitreist – oder auch: mit mir innehält. Der Strom kommt von der Sonne, die Luft von den Bäumen, der Mut von innen.
Die Gesellschaft hat für meine Situation viele Begriffe. „Alternatives Wohnen“ klingt wie eine Rubrik auf einem Immobilienportal für Mutige. „Prekär“ klingt wie ein Urteil mit Zwischenzeile. Dabei ist es gar nicht prekär. Es ist einfach. Und das ist, in einer Welt der Komplexität und der multiplen Identitäten, fast schon ein radikaler Akt.
Ich höre morgens die Vögel. Nicht vom Balkon, sondern aus dem Baum daneben. Ich koche Wasser auf zwölf Volt, zähle Kilowattstunden wie andere ihr Kleingeld. Ich lerne, dass ein Wohnort nicht aus Quadratmetern besteht, sondern aus Beziehung: zur Umgebung, zur Zeit, zur eigenen Geschichte.
Früher bedeutete Zuhause vielleicht: ein Ort, den man nie infrage stellt. Jetzt bedeutet es: ein Ort, der sich jede Nacht neu bewähren muss. Ist es warm genug? Ist es leise? Bin ich sicher? Und genau darin liegt die Schönheit: im Bewusstsein der Fragilität, nicht in der Illusion der Sicherheit.
Paul ist kein Statussymbol. Paul ist ein Werkzeug. Vielleicht sogar ein Instrument – auf dem ich, holprig noch, erste Töne übe. Die Partitur ist nicht geschrieben. Ich lebe sie. Improvisation ist nicht Planlosigkeit. Sie ist die höchste Form der Aufmerksamkeit.
Ich habe ein Leben getauscht, das zu groß geworden war, gegen eines, das passt. Nicht im Sinne von „genug Platz“, sondern im Sinn eines Maßanzugs für das Ich, das ich wieder werde.
Vielleicht ist das die große Illusion unserer Zeit: Dass mehr gleich besser sei. Dabei ist das Gegenteil der Fall. Weniger ist weniger. Und manchmal ist das genau das, was man braucht, um wieder zu spüren, wer man ist – jenseits von Besitzstand, jenseits von Mietvertrag, jenseits der Frage, ob das WLAN stabil ist.
Heute ist Tag 1.
Ein Tag, der nicht protzt. Kein episches Ereignis. Kein Gipfel. Kein Absturz. Nur ein Morgen, an dem ich zum ersten Mal auf einer Matratze in einem Kastenwagen aufwachte, mit dem Gefühl, nicht gefangen, sondern befreit zu sein.
Es wird Tage geben, an denen ich das anzweifle. Nächte, in denen das Rattern des Regens auf dem Dach mir wie Spott erscheinen mag. Wochen, in denen ich Ordnung vermisse, Normalität, eine Klingel. Aber heute – heute nicht.
Heute bin ich genau da, wo ich sein will. In einem Fahrzeug, das kein Fluchtmittel ist, sondern ein Erzähler. Paul kennt meine Geschichten noch nicht, aber er wird sie hören. Und ich werde sie aufschreiben. Nicht, weil sie spektakulär sind. Sondern weil sie es wert sind, erzählt zu werden – ganz einfach, ganz leise.
Willkommen zu den SimpleVan Diaries.
Nicht mehr ganz draußen, noch nicht ganz drin. Aber auf dem Weg. Und das ist genug.
Wunderbar geschrieben
Lieber Carsten,
einfach nur genial. Willkommen auf der ‚anderen Seite‘! Bin sehr gespannt auf Deine Geschichten rund um Paul, rund um den Globus. LG aus Kroatien, Ute & Charly