Es ist Tag 2. Ich sitze in Lübeck-Schlutup, einem Ort, der selbst für viele Lübecker nur ein Randnotizwort ist. Schlutup – das klingt, als hätte jemand einen Schnupfen beim Sprechen gehabt und trotzdem entschieden, den Ort so zu lassen, wie er war. Man fährt hier nicht vorbei, man fährt hierher. Und das ist schon die halbe Wahrheit.
Der Stellplatz liegt am Wasser. Still. Kein Postkartenidyll, aber auch kein abgewetzter Restbeton, wie man ihn von Industriekais kennt. Hier liegt das Leben wie ein rostiger Poller: ungeschönt, aber tragfähig. Das Feuerlöschboot schwankt leicht im Wasser, Möwen machen das, was Möwen immer tun – schreien nach Freiheit, auch wenn sie sie längst haben. Und ich stehe dazwischen. Nicht als Tourist, nicht als Durchreisender. Ich bin angekommen. Zumindest heute.
Paul – mein Van – schnauft noch leise nach. Er hat heute nicht viel tun müssen, vielleicht 10 Kilometer, aber es ist wie bei alten Pferden: Die Bewegung zählt, nicht die Strecke. Ich habe den Arbeitsplatz notdürftig eingerichtet. Ein Tischbrett, ein Monitor, der Laptop auf einer Kiste. Improvisation ist hier keine Tugend, sondern ein System. Und das funktioniert erstaunlich gut.
Ich habe das Video geschnitten. Wieder ein kleiner Abschnitt, wieder ein Blick. Ich versuche nicht, etwas darzustellen. Ich bin einfach da. Vielleicht ist das schon der Unterschied zur Welt da draußen, in der man ständig etwas sein muss. Erfolgreich, strukturiert, abgesichert. Hier genügt es, zu sein. Das WLAN kommt vom Handy, der Strom von der Sonne. Und das Glück? Das ist meistens da, wenn man es nicht zu laut ruft.
Park4Night, diese flüsternde App der Van-Nomaden, hat einen warnenden Hinweis dagelassen. Irgendwas von „Ordnungsamt könnte kontrollieren“. Das klingt immer ein bisschen wie „Die Ritter der Tafelrunde kommen zurück“, nur eben mit Klemmbrett. Ich frage mich: Was genau soll hier eigentlich gestört sein? Ich stehe auf einem öffentlichen Parkplatz. Niemand wird blockiert, es ist ruhig, sauber – und es ist Platz. Viel Platz. Der einzige Unterschied zu einem anderen Auto ist: Ich verlasse meins nicht nach zehn Minuten wieder, sondern koche darin mein Abendessen.
Und ja, das ist vielleicht der eigentliche Punkt. Wer hier wohnt, wer lebt, wer nicht nur parkt, der verletzt offenbar eine Regel, die nie geschrieben wurde, aber tief sitzt: Du sollst dich nicht außerhalb der Norm einrichten. Du sollst das Leben mieten, nicht einfach hinstellen.
Aber ich bleibe. Nicht trotzig, sondern selbstverständlich. Ich nehme niemandem etwas weg. Ich mache keinen Lärm. Ich hinterlasse keinen Dreck. Ich atme. Ich arbeite. Ich schlafe. Ich lebe. Und das reicht.
Das Abendessen wird einfach. Etwas Warmes, das ausreicht. Ich habe nichts vermisst heute. Kein Sofa, kein Badezimmer, kein Kühlschrank, der nachts brummt wie ein enttäuschter Hund. Vielleicht ist das das Überraschende an Tag 2: Nicht die Unsicherheit, sondern die Stille. Nicht die Frage, wie lange ich das durchhalte – sondern der Gedanke, dass ich nichts mehr durchhalten muss.
Ein paar Radfahrer kommen vorbei, schauen kurz, fahren weiter. Kinder angeln mit Plastikbechern nach Quallen. Ein alter Mann geht langsam am Kai entlang, schaut in den Himmel, als wäre dort eine Antwort versteckt, die er vergessen hat zu stellen.
Ich bin mittendrin und doch außen vor. Kein Zuhause, aber auch kein Hotel. Es ist ein Dazwischen. Und ich beginne zu begreifen, dass genau dort das Leben seine besten Kapitel schreibt. Nicht im Besitz. Nicht in der Planung. Sondern im Moment, der da ist, ohne zu fragen.
Tag 2 also. Vielleicht wird es schwerer. Vielleicht auch nicht. Aber heute – heute war gut. Ich habe etwas gelernt. Über Paul. Über Schlutup. Und über mich.